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Medienanalyse


Die Jihad-Reise beginnt nicht mit der Waffe
Methoden zur Früherkennung und Deradikalisierung gewaltbereiter Islamisten sind in der Schweiz erst teilweise aufgebaut

Von Daniel Gerny (dgy)
Quelle: Neue Zürcher Zeitung; 19.03.2016

Das Abdriften in den extremen und jihadistischen Glauben bleibt oft lange unbemerkt. Wie bei der 18-jährigen Thunerin, bei der der Islam schleichend das Ein und Alles wurde. Um Schlimmes zu verhindern, ist ein Knackpunkt entscheidend.


Eines Tages trug die knapp 18-jährige Frau, wohnhaft in Thun und während des Balkankriegs mit der Familie aus Bosnien (biografische Daten verändert) in die Schweiz gekommen, plötzlich Kopftuch. Sie machte ihren Eltern, die mit dem Islam nicht viel am Hut hatten, schon einige Zeit Vorwürfe wegen deren säkularer Haltung, vernachlässigte ihre alten Freundinnen und hielt sich immer häufiger in der Moschee auf. Nach und nach entwickelte sich der Islam zum gesamten Lebensinhalt. Überall erkannte sie Islamfeindlichkeit. Selbst gewaltbereite Muslime begann sie zu verteidigen. Bereit, selbst in den Jihad zu ziehen? Man darf annehmen, dass sie mit dem Gedanken spielte.

IS-Rückkehrer sind Einzelfälle

Es sind solche Fälle, mit denen Samuel Althof konfrontiert ist, Leiter der Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention der beiden Basel. In ihrem zweiten Bericht vom November misst die Task-Force zur Bekämpfung des jihadistisch motivierten Terrorismus (Tetra) der Radikalisierungsprävention und der Deradikalisierung erhöhte Bedeutung zu. Der Sicherheitsverbund Schweiz, der sich aus Vertretern des Bundes und der Kantone aus dem Sicherheitsbereich zusammensetzt, erarbeitet derzeit gestützt darauf eine Übersicht über bestehende Angebote wie die Fachstelle beider Basel. Bis jetzt existieren erst wenige konkrete Angebote, so beispielsweise die Beratungsstelle Radikalisierung der Stadt Bern oder die Fachstelle Brückenbauer der Kantonspolizei Zürich.

Vor allem für die Deradikalisierung von gewaltbereiten Muslimen gibt es kaum Programme. Bekannt ist, dass die Association Culturelle des Femmes Musulmanes de Suisse in La-Chaux-de-Fonds mit der Kinderschutz-Behörde auf diesem Gebiet zusammenarbeitet. Laut Cathy Maret vom Bundesamt für Polizei sind standardisierte Programme zur Deradikalisierung nicht unbedingt sinnvoll. Es handle sich bei zurückkehrenden Jihad-Kämpfern um Einzelfälle, von denen jeder individualisiert betrachtet werden müsse. Die entsprechende psychosoziale Begleitung erfolge, sobald ein Strafverfahren eingeleitet sei. Bei der Bundesanwaltschaft sind derzeit rund 60 Fälle hängig. Die Anzahl der Jihad-Reisenden beläuft sich gemäss Nachrichtendienst des Bundes (NDB) auf bisher 72, wobei nur wenige in die Schweiz zurückgekehrt sind. Auch die in den letzten Tagen in den Medien kursierenden Listen mit IS-Angehörigen auch aus der Schweiz ändern an dieser Bedrohungslage nichts.

Wichtiger erscheinen präventive Programme. Dabei zeigen Erfahrungen aus dem Ausland, dass die lokale Verankerung solcher Angebote entscheidend ist, wie es in einer Untersuchung der Zürcher Fachhochschule zu den Hintergründen jihadistischer Radikalisierung in der Schweiz heisst. Das sieht auch Althof so. Die Strukturen – Beratungsstellen, Schulen, Kesb, Sozialarbeiter, Muslimvereine – seien grundsätzlich vorhanden und verfügten über die besten lokalen Kenntnisse sowie über das nötige Instrumentarium. Allerdings sei die Vernetzung teilweise ungenügend, und es fehle bei den Stellen oft an spezifischen Kenntnissen zur Erkennung von Radikalisierungstendenzen und zum Umgang damit. Nach Ansicht von Fachleuten geht es deshalb vor allem darum, das Bewusstsein zu schärfen, wie es zur Radikalisierung kommt.

André Duvillard, Delegierter des Sicherheitsverbunds Schweiz, wollte auf Anfrage keine Auskunft über bisherige Ergebnisse und mögliche Empfehlungen im Hinblick auf den für Sommer erwarteten Bericht geben. Auch wenn sich die Szenen radikaler Muslime und Islamisten in der Schweiz nicht mit jenen in europäischen Grossstädten vergleichen lassen, ist keineswegs ausgeschlossen, dass es in Einzelfällen trotz guten Programmen zur Radikalisierung und Gewaltbereitschaft kommt. Solche Fälle seien zwar «selten, aber unter Umständen extrem gefährlich», sagt Althof. Die beiden Tetra-Berichte des vergangenen Jahres machen vor diesem Hintergrund deutlich, dass psychosoziale nicht gegen polizeiliche und nachrichtendienstliche Präventivmassnahmen ausgespielt werden dürfen. Auch Samuel Althof plädiert ausdrücklich dafür, dem Nachrichtendienst die nötigen Mittel in die Hand zu geben, statt diese politisch stets infrage zu stellen – auch weil das grösste Risiko für Anschläge im Inland nach wie vor von Islamisten ohne Bezug zur Schweiz ausgehe.

Rückfall nicht ausgeschlossen

Die 18-jährige Thunerin mit bosnischen Wurzeln ist schliesslich nicht ins Kampfgebiet gereist. Im Rahmen ihrer Behandlung zeigte sich, dass wohl eine Faszination für den radikalen Islam vorhanden war, aber grundsätzlich keine Gewaltbereitschaft. Althof arbeitete intensiv mit der jungen Frau – und noch mehr mit ihrer seit langem völlig destabilisierten Familie. Die Eltern hatten sich von ihrer Tochter abgewendet, statt sich mit ihrer bedrohlichen Entwicklung auseinanderzusetzen. Dabei sei es für Betroffene entscheidend, zu erkennen, dass es gute Gründe zum Bleiben gebe. Nur so könne die Prävention Wirkung entfalten und die Reise in den Jihad verhindert werden, erklärt Althof und spricht in diesem Kontext von einem «Knackpunkt». Es folgten der lange Weg zur Wiederaufnahme der Beziehung mit den Eltern und der sanfte Einstieg ins Berufsleben als künftige Kindergärtnerin. Die Situation ist fragil – bis heute. Stets droht der Rückfall in die Radikalität, die Gewissheiten verspricht, die es in Wahrheit nicht gibt.

Prävention hat hier noch nicht gereicht: Blick in den Gerichtssaal in Bellinzona am 2. März.

Karin Widmer / Ti-Press / Keystone
Syrien und der Irak als Zielländer

Daniel Gerny (dgy)
dgy. · Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) hat seit 2001 72 Jihad-Reisende registriert. Dies gab er am Donnerstag bekannt. Gegenüber dem Vormonat veränderte sich der Wert nicht. Während die Zahl der Reisenden zwischen Mai 2014 und Oktober 2015 von 56 auf 71 anstieg, haben sich die Fälle seither stabilisiert. Die meisten, nämlich 58 Personen, reisten in den Irak oder nach Syrien. 12 Personen sind zurückgekehrt, davon wurden 9 Fälle bestätigt. 18 Jihad-Reisende wurden getötet. Über eine schweizerische Staatsangehörigkeit verfügen 28 Reisende, wobei davon 16 Doppelbürger sind.

 

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